Reichsfreiheit - Dornröschenschlaf - Zukunftssicherung
Vor mehr als 730 Jahren bekam Luhe, an der Mündung des gleichnamigen Flüsschens in die Naab gelegen, das Marktrecht verliehen. Die Marktfreiheiten wurden 1331 von Kaiser Ludwig dem Bayer bestätigt. Den Luher Bürgern wurde erlaubt, jährlich zwei Jahrmärkte und wöchentlich - jeweils Mittwochs - einen Markttag abzuhalten. Damit sollten die Einwohner Luhes die gleichen Rechte und Freiheiten haben wie die der Reichsstadt Weiden.
Der Freiheitsbrief von 1331 beinhaltete zudem die Verleihung der eigenen Gerichtsbarkeit für Luhe. Diese umfasste die "alltägliche" Rechtsprechung - meist Familien-, Nachbarschafts- und Erbstreitigkeiten - und die Halsgerichtsbarkeit. Heute erinnern noch der Flurname Galgenberg, das ehemalige Richterhaus, der Pranger und das spätmittelalterliche Granitschwertrelief am alten Rathausturm an die Zeit der Luher Rechtsprechung.
Aufgrund der Privilegien wurde Luhe in alten Urkunden des öfteren mit "Stadt" bezeichnet. Eine Stadterhebung durch Kaiser Karl IV. (1347-1378) wäre denkbar gewesen; Luhe war zu dieser Zeit ins Königreich Böhmen eingegliedert. Das "Böhmische Salbüchlein" erwähnt Luhe als "Markt und Städtlein zu dem Lu". Durch die Gebäudestellung und eine zumindest zum Teil umlaufende Ringmauer war der Markt befestigt, unabdingbare Voraussetzung für die Eigenschaft "Stadt". Drei Tore sicherten den Zugang; das letzte erhaltene, das Webertor, wurde beim Ausbau der ehemaligen Bundesstraße 15 im Jahr 1937 abgebrochen. Bis zum Ende des letzten Jahrhunderts wurde an den Toren Pflasterzoll erhoben; Händler und Reisende, die an der Ortschaft vorbeifuhren, mussten mit Bestrafung rechnen.
Der gewachsene historische Marktplatz in Luhe weitet sich gegen Süden trichterförmig auf. Seinen Abschluss bildet das alte Rathaus mit dem um 1890 angebauten Schultrakt und im Südwesten die Pfarrkirche St. Martin mit befestigtem Umgriff. Im 14. Jahrhundert war Luhe Dekanatssitz; großer Grundbesitz, zum Teil aus Stiftungen, machte die Pfarrei reich; die heutige prächtige Rokokoausstattung der Kirche aus den Jahren um 1730 gibt davon Zeugnis. Auch der ehemalige Pfarrhof, 1790 durch einen Brand verwüstet und nach den Plänen des Waldsassener Baumeisters Frater Muttone wieder aufgebaut, zeugt vom Ertragsreichtum der ausgedehnten Besitzungen. Luhe war eine Ökonomiepfarrei; der Pfarrherr führte mit Hilfe von zahlreichem Hilfspersonal den Hof. Verschiedene Nebengebäude wurden anfangs der 60er Jahre unseres Jahrhunderts abgebrochen.
Der alte Markt Luhe erlangte wirtschaftliche Bedeutung durch seine Lage als Altstraßen-Knotenpunkt. Hier kreuzte sich die in Nord-Süd-Richtung verlaufende mittelalterliche Magdeburger Straße mit der aus Nürnberg kommenden und nach Pilsen und Prag führenden Alten Heerstraße. Eine weitere Straßenverbindung bestand mit Amberg, dem Zentrum des spätmittelalterlichen Eisenerzbergbaues. Der Handel und vor allem das örtliche Handwerk profitierten von der zentralen Lage. Reisende, Fuhrleute und Zugtiere waren zu versorgen, Wägen zu reparieren, Vorspann- und Hilfsdienste zu leisten. Zu dieser Zeit gab es in Luhe bereits drei Mühlen, Wirtsstuben, Bäcker- , Metzger- und Krämerläden. Ab dem 15. Jahrhundert sind auch ein Schmied und ab dem 16. ein Schuhmacher und ein Bader belegt. Der Ende des 17. Jahrhunderts eingerichtete Postwagenkurs führte auf der Strecke Regensburg-Eger durch Luhe, und 1863 wurde die Eisenbahn herangeführt.
Im 17. und 18. Jahrhundert waren in Luhe alle damals "gängigen" Handwerksberufe anzutreffen. Neben dem Nahrungsmittelgewerbe gab es u. a. Weber, Schmiede, Wagner, Lederer, Schuster und Schreiner. Der Wettbewerb untereinander wurde durch Handwerksordnungen begrenzt. An den kirchlichen Prozessionen beteiligten sich die Handwerker mit ihren geschmückten Handwerksstangen. Mitte des 19. Jahrhunderts betrieben von allen 109 ansässigen Bürgerfamilien 76 einen gewerblichen oder kaufmännischen Kleinbetrieb. Die restliche Bürgerschaft ernährte sich aus landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetrieben, aus der Forst- und/oder Fischereiwirtschaft oder durch örtliche Verwaltungs- und nichtgewerbliche Dienstleistungsberufe.
Neben ihrem Gewerbe gingen auch die Handwerker und Händler einer landwirtschaftlichen Nebenerwerbstätigkeit nach, die zumindest die Selbstversorgung der Familien sicherte. Jeder Bürger besaß außerdem das Braurecht; das Kommunbrauhaus stand in Gemeinbesitz. Die Kombination aus landwirtschaftlicher und gewerblicher Tätigkeit brachte den Einwohnern Luhes beträchtlichen Wohlstand. Davon zeugen noch heute die schönen Bürgerhäuser am Marktplatz und in der Planstraße. Zwar wurden sie größtenteils durch die Brandkatastrophe im August 1928 zerstört - 44 Anwesen waren betroffen -, aber unmittelbar danach im weitgehend ursprünglichen Baustil wieder erbaut.
Zufahrtstore in den Gebäuden ermöglichten die Durchfahrt zum rückwärtigen Hausgrundstück und den Nebengebäuden. Regelmäßige Fenster betonten und gliederten die Fassadenzeilen. Granitgewände an Türen und Fenstern zeigten Wohlhabenheit und Anspruch des Besitzers an Wohnqualität. Andere Häuser trugen Faschen- und Bänderverzierungen. So schmückt z.B. eine Brezel im doppelstöckigen Granittürrahmen aus dem Jahr 1793 das ehemalige Bäckermeisteranwesen Knorr-Reichenberger (heute Marktplatz 21). Im leider abgebrochenen gegenüberliegenden Haus, ehemals eine Metzgerei ("Metzgermichl"), hatte sich der Besitzer als Hauszeichen einen Ochsenkopf in die Türgewände meißeln lassen. Granit als Baustoff war auch im 18. und 19. Jahrhundert teuer und nicht alltäglich. Für die besser situierten Marktbürger war das Beste gut genug - sie ließen sich die Gestaltung ihres Hauses schon "etwas kosten".
Nahezu alle Häuser wiesen prächtige Haustüren mit Aufdoppelungen oder zum Teil geschnitzten Füllungen auf - der Ausdruck "Portal" ist nicht übertrieben; Luher Bürger zeigten hier ihren Stolz! Die Häuser waren Zeichen des Ansehens und der Würde ihrer Besitzer. Die klaren Baukörper wurden durch gestalterische Besonderheiten geschmückt. Diese Einzelheiten variierten, waren wohl durchdacht und vermieden Uniformität in der geschlossenen Fassadenfront. Eckhäuser wurden zudem durch Krüppelwalme oder Erker betont. Einheitliche Traufhöhen verstärkten die Ensemblewirkung.
Der Marktplatz war früher die attraktivste Wohngegend; er war das Zentrum des dörflichen Lebens. Auf den Jahr- und Wochenmärkten wurden bekannte und unbekannte Waren angeboten. Man konnte kaufen und verkaufen, sah fremde Gesichter und erfuhr von den Durchreisenden Nachrichten und Neuigkeiten. Den knappen Feierabend verbrachte man auf der Bank vor dem Haus und tauschte mit der Nachbarschaft Wissenswertes und Nebensächlichkeiten aus. Der Marktplatz war Kommunikationszentrum in einer Zeit ohne moderne Massenmedien. Der Marktbrunnen diente der Koch- und Brauchwassergewinnung und war ein interessanter Spielplatz für die Kinder.
Im Jahre 1937 wurde im Rahmen des Ausbaues der Bundesstraße auch der Luher Marktplatz verkehrsgerecht angelegt. Als erstes musste das letzte noch erhaltene Markttor abgetragen werden; für die aufkommenden Lastwagen war es ein unüberwindliches Hindernis. Die alten Pflastersteine taten bis Ende der sechziger Jahre ihren Dienst. Auch hier forderte das immens gestiegene Verkehrsaufkommen der Wirtschaftswunderzeit seinen Tribut. Asphalt und Beton hielten Einzug im alten Markt, der seine Geschlossenheit und Intimität dem Durchgangsverkehr opfern musste. An die Bewohner dachte dabei kaum jemand. Der ursprünglich gefragte gute Wohnwert am Marktplatz sank immer mehr, die Schnelligkeit und Bequemlichkeit des motorisierten Verkehrsteilnehmers hatte absolute Priorität. Kinder konnten nicht mehr alleine auf die Straße gelassen werden, und auch alte Leute zogen es vor, das Wohnhaus durch den Hintereingang zu verlassen, denn unmittelbar vor dem Haus, vor den Türen und den Wohnzimmern, brauste der Moloch Verkehr. Ebenso wurde es für die Landwirte zunehmend schwieriger, mit ihren langsamen ungelenken Fahrzeugen und den engen Toreinfahrten im immer hektischer werdenden Verkehrsfluss zu bestehen. Da kamen Staatszuschüsse sehr gelegen und man siedelte aus. Meist blieben nur die alten Leute, die Austrägler, im angestammten Anwesen zurück.
Die aufkommende Arbeitsteilung, die Mechanisierung und Rationalisierung und die Serien- und Massenfertigung hatten bereits in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts dazu geführt, dass viele der Kleingewerbebetriebe schließen mussten. Aus ehemaligen selbständigen Ackerbürgern und Handwerkern wurden Arbeiter und Angestellte, die in die Stadt zum Arbeiten pendelten. Der Bezug zum alten Haus und ehemaligen Wohn- und Arbeitsplatz ging immer mehr verloren. Hielt die Vorkriegs- und Kriegsgeneration noch am angestammten Sitz fest, so gab es für die Jüngeren mehrheitlich kein Bleiben mehr. Sie flohen aus dem lauten, unwirtlichen und gefahrträchtigen Marktplatz in die Neubaugebiete. Mit der neuen Lebensform als Lohnempfänger hatte sich auch die Denkweise geändert: Nicht mehr das alte Wohnhaus, der Stolz der Eltern und Vorfahren, das angestammte Umfeld und die hergebrachte Lebensweise wurden als wertvoll angesehen, sondern die Lebenswerte der meist zugezogenen Bewohner der Dorfränder, der Neubausiedlungen, sind zum Leitbild geworden. Die neuen Häuser waren heller, trockener, geräumiger, gerader, leichter zu heizen und hatten Teppichböden und Einbauküchen; das Wohnumfeld war ruhiger und weniger gefährlich für die Kinder. Und in der hektischen, vorwärtsstrebenden, sauberkeitsfanatischen, durchrationalisierten, materialistischen Zeit war kein Platz für das Alte, das Harmonische und Feine, für Brauch, Sitte und Geschichte. Die ästhetische Unempfindlichkeit hat mit dem Vergessen und Verdrängen von überlieferten Werten schnell zugenommen.
Der oben beschriebene Wertewandel gilt nicht nur für den alten Markt Luhe; er hat sich in vielen oberpfälzischen und bayerischen Dörfern ähnlich abgespielt. Für Luhe bietet sich aber jetzt eine neue Chance: Zum einen hat sich mit der Heranführung der Autobahn A 93 die Verkehrslage im Innerortsbereich wesentlich entschärft. Der Fern- und Durchgangsverkehr läuft nun weitgehend am historischen Marktort vorbei. Zum anderen wurde Luhe in das Bayerische Dorferneuerungsprogramm aufgenommen. Dieses hat die Bewahrung und Ausgestaltung des gewachsenen Ortsbildes zum Ziel. Darunter fällt die Erhaltung und Gestaltung dörflicher Bausubstanz mit ortsbildprägendem Charakter, die Gestaltung von Plätzen, Straßenräumen und Bauten, die Instandsetzung von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, die Anlage von Grün- und Spielflächen, die Verbesserung des Naturhaushalts sowie die Erhaltung und Sanierung von Ortsdenkmälern wie Bildstöcken, Wegkreuzen, Backöfen usw.
In Luhe haben wir die sich bietenden Chancen ergriffen: Der alte Marktplatz wurde bereits saniert, die überdimensionierten Verkehrsflächen rückgebaut und eine kleine autofreie Zone im Zentrum geschaffen. Auch die Zufahrten zum Marktplatz wurden nach den Vorgaben der Dorferneuerung umgestaltet. Das alte Rat- und Schulhaus wurde vor wenigen Jahren komplett restauriert bzw. neu aufgebaut und auch alle Bürgerhäuser am Marktplatz wurden bereits saniert. Die Marktplatzflucht wurde gestoppt; die Dorferneuerung trägt Früchte; die Zukunft von Luhe ist gewährleistet.
Dr. Karl-Heinz Preißer